Drogenselbsthilfe als wichtiger Hinweisgeber für Veränderungen im Drogenmarkt

JES – das Netzwerk von Usern, Ehemaligen und Substituierten

Auszug: rausch/Wiener Zeitschrift für Suchttherapie Heft 3/2023 Autor: Dirk Schäffer

JES (Junkies, Ehemalige und Substituierte) ist ein 1989 gegründetes bundesweites Selbsthilfenetzwerk mit etwa 20 lokalen Gruppen und landesweiten Zusammenschlüssen. Anders als in vielen anderen Selbsthilfen bietet JES allen DrogengebraucherInnen Zugang unabhängig davon, ob sie ehemalig konsumiert haben oder aktuell illegalisierte Substanzen konsumieren bzw. substituiert werden, Zugang zum Netzwerk.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht neben der individuellen Unterstützung und Hilfe vor allem das Engagement in der strukturellen Prävention. Dies bedeutet Menschen durch die Bereitstellung von neutralen Informationen in informierten Konsumentscheidungen zu unterstützen und auf einen risikoreduzierten Konsum hinzuwirken. Auf der anderen Seite ist es die Aufgabe von JES, gesellschaftliche und politische Strukturen und Haltungen gegenüber Drogen und DrogengebraucherInnen zu verändern. Peers oder Menschen mit Erfahrungen im Substanzkonsum sind die aktuellen Bedarfe drogenkonsumierender Menschen unmittelbar zugänglich. Deshalb können Peers als „Frühwarnsystem“ im Hinblick auf neue Substanzen oder sich verändernde Konsumformen dienen und frühzeitig den künftigen Bedarf für professionelle Hilfsangebote aufzeigen. Über die Auseinandersetzung kann das professionelle Hilfesystem wesentliche Impulse geben, um ergebnisorientiertere und bedürfnisgerechtere Angebote zu entwickeln. Peers in Strukturen der Selbsthilfe verstehen sich damit als Impulsgeber für die Modernisierung bestehender professioneller Ansätze der Prävention und Schadensminderung.
Über die Entwicklung und Stärkung informeller Netzwerke können neue und qualitativ andere als dem professionellen Hilfesystem zugängliche Potentiale erschlossen werden. Folgerichtig liegt nahe, Eigenarbeit von Betroffenen und professionelles Fachwissen zum gegenseitigen Vorteil zu verknüpfen. JES versteht seine Angebote an Hilfe und Unterstützung deshalb eher als Ergänzung zu professioneller Hilfeleistung und damit als Erhöhung der Wirksamkeit entsprechender Angebote.

Crack in regionalen Drogenszenen

Bedingt durch die große Nähe zu kommunalen Drogenszenen wurden Veränderungen hinsichtlich veränderter Applikationsformen von Kokain bereits vor mehr als zehn Jahren durch den JES-Bundesverband und seine Mitglieder in Vor-Ort-Strukturen wahrgenommen. Hierzu ist allerdings anzumerken, dass der inhalative Konsum von Kokain kein neues Phänomen ist, sondern diese Konsumform seit dem Aufkommen des Heroinkonsums in Deutschland in den 1970er Jahren praktiziert wird. Damals wurde der inhalative Konsum von Kokain zumeist als „Add-on“ genutzt. Heute wird deutlich, dass sich der Konsum von Crack bzw. von inhalativ konsumiertem Kokain täglich vollzieht und Crack den Stellenwert einer Primärsubstanz erlangt hat. Hierdurch vollzieht sich der Konsum oftmals in monatlichen Abständen über den gesamten Tag hinweg. Mit dem verstärkten Aufkommen der direkten Zubereitung von inhalativ konsumierbarem Kokain und dem Konsum des fertigen „Steins“ in der Öffentlichkeit (vielfach im Umfeld von niedrigschwelligen Einrichtungen sowie von Drogenkonsumräumen) wurden risikoreiche Herstellungs- und Konsumformen deutlich. So wurde in der Zubereitung vielfach Ammoniak verwendet, um aus Kokainpulver einen rauchbaren Stein herzustellen. Das besondere Risiko des Gebrauchs besteht darin, dass gasförmiges Ammoniak vor allem über die Lungen aufgenommen wird und stark ätzend auf die Schleimhäute wirkt.

Im Hinblick auf vielfach bestehende COPD-Erkrankungen kann der dauerhafte Konsum von mit Ammoniak hergestelltem Crack dramatische gesundheitliche Folgen haben. Auch die Augen können durch die Einwirkung von Ammoniak stark geschädigt werden. Beim Einatmen hoher Konzentrationen besteht Lebensgefahr durch Schäden in den Atemwegen (Kehlkopfödem, Stimmritzenkrampf, Lungenödeme, Pneumonitis) und Atemstillstand. Beim Übergang großer Mengen Ammoniak ins Blut kommt es zu zentralnervösen Erscheinungen wie Tremor der Hände, Sprach- und Sehstörungen und Verwirrung. Infolge von Verletzungen durch eine große Hitzeentwicklung beim Konsum sind bei vielen KonsumentInnen Blasen, Wunden und Schnitte an Lippen und Zahnfleisch zu sehen. In verschiedenen Studien wird das Pipe Sharing mit einem erhöhten Risiko einer Infektion mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) in Verbindung gebracht. JES verschrieb sich der Aufgabe, einen erleichterten Zugang zu Crack-Pfeifen sowie entsprechenden Mundstücken zu realisieren, KonsumentInnen über die Risiken zu informieren und somit die Übertragung von durch Blut übertragbaren Krankheiten in dieser Gruppe zu verringern. Durch die stetig steigende Zahl von CrackkonsumentInnen wurde deutlich, dass das niedrigschwellige Hilfesystem über Pfeifen verfügte, aber Natron, Siebe und andere Konsumutensilien nicht in ausreichender Menge und nur gegen ein erhebliches Entgelt zur Verfügung standen.

Der Weg zum „Safer Crack Use-Container“

Der JES-Bundesverband begab sich auf die Recherche nach hochwertigen, aber bezahlbaren Konsumutensilien und stellte Überlegungen an, welche Konsumutensilien in ein Komplettset gehören könnten. Bei der Nutzung sogenannter „Single Use Pipes“ aus einer festen Papierrolle mit einem Sieb auf der Oberseite des Röhrchens entstand eine zu große Hitzeentwicklung, weil die Pfeife zu kurz war. Entsprechende Mundstücke waren aufgrund des zu großen Durchmessers der Pfeife nicht erhältlich. Im Mittelpunkt stand nicht nur die Bereitstellung von Pfeifen, sondern die Distribution eines sicheren, hochwertigen und bezahlbaren Komplettsets das einen risikoreduzierten Crackkonsum möglich machte. Im nächsten Schritt wurden im einem Pretest hochwertige Crackpfeifen mit einer Länge von 10 cm aus Pyrexglas eingesetzt. Zudem wurde das Set mit einem kleinen Beutel mit einigen Gramm Natron sowie zwei Hochleistungssieben ausgestattet. Ein eigens für das Set entwickelter Flyer gab Auskunft über die Verwendung von Natron und Mischverhältnisse zur Herstellung von rauchbarem Kokain. Um die Risiken des Pipe Sharing zu reduzieren, enthielt das Set zudem ein Mundstück. Als Behältnis fungiert ein kleiner Plastikcontainer, der von außen nicht einsehbar ist und dafür sorgt, dass alle Utensilien sauber und sicher transportiert werden können (JES-Bundesverband, o.J.). Dieses Set wurde im Hilfesystem für einen Preis von zwei Euro zur Verfügung gestellt. Das Echo der Aids- und Drogenhilfen, aber auch der UserInnen war überaus positiv. Trotz der Tatsache, dass viele UserInnen ihre ganz eigenen Utensilien verwenden und die Herstellung von Crack auch individuelle Rituale beinhaltet, signalisierten KonsumentInnen eine hohe Zufriedenheit mit dem bereitgestellten Set. Diese Zufriedenheit spiegelte sich recht schnell in den Anforderungszahlen wider. In den letzten drei Jahren wurden insgesamt ca. 30 000 Crack-Sets bei JES abgefordert.
JES und seine Mitglieder tragen bei diesem Projekt die Gesamtverantwortung: vom Einkauf der Materialien, der Bestückung der Container, der Bewerbung des Angebots bis zur Distribution und Abrechnung der bestellten Einheiten. Dies ist für ein ehrenamtlich arbeitendes Netzwerk eine Herausforderung, die bisher hervorragend gemeistert wird. Dass die Zahl der abgeforderten Safer-Crack-Use-Sets nicht noch deutlich höher ist, liegt eher an den begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen der Selbsthilfe als am Bedarf des Hilfesystems.

Dieses Projekt ist nur ein Beispiel, was man mit der Einbeziehung von Peers in die Projekte von Aids und Drogenhilfen erreichen kann. Sie können das Team um einen Blickwinkel ergänzen, den niemand anderes, und sei er/sie noch so gut ausgebildet, haben kann. Es ist die Nähe zur Drogenszene bzw. zu DrogenkonsumentInnen, die sie in die Lage versetzen, Veränderungen schnell wahrzunehmen und in der Kommunikation mit MitarbeiterInnen der Projekte für eine Anpassung bestehender Angebote zu sorgen.

Autor: Dirk Schäffer
Deutsche Aidshilfe, Berlin, Teamleitung; Referent für Drogen, Strafvollzug und JES
DANKE für die Freigabe zur Veröffentlichung

Quelle: rausch/Wiener Zeitschrift für Suchttherapie Heft 3/2023